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Nicht alle Held*innen tragen Capes - Dr. Ann-Kristin Dorn über FreeFrom

Dr. Ann-Kristin Dorn ist Ernährungswissenschaftlerin und unterstützt Menschen mit ihrer Ernährungsberatung THE FOOD TALKS und ihrem gleichnamigen Podcast, sich gesund und ausgewogen zu ernähren. Zudem richtet sie das FreeFrom Hero Festival aus, das sich für Menschen mit Lebensmittelunverträglichkeiten einsetzt und am 5. und 6. März 2022 stattfindet. Unsere Deep-Dive-Kuratorin Bastienne hat mit ihr über Unverträglichkeiten, FREE-FROM und eine bessere Akzeptanz gesprochen. Das Interview ist Teil unseres Fokusthemas "Ernährung, Psyche und Wohlbefinden", mit dem wir uns bei NUTRITION HUB noch bis Ende Februar 2022 befassen.

Du bist Ernährungswissenschaftlerin und Mit-Gründerin des jährlich stattfindenden FreeFrom Hero Festivals. Ihr seid in mitten der Vorbereitungen für das nächste Festival, das am 5. und 6. März stattfinden wird. Wer besucht eure Konferenz?

Das FreeFrom Hero Festival haben wir, meine Mit-Gründerin Christina Rückert und ich, für Menschen mit Zöliakie und für alle, die auf Gluten, Weizen und andere Lebensmittel verzichten müssen, konzipiert. Dort finden Betroffene Informationen und Inspiration zur glutenfreien, pflanzenbasierten, fruktose-, laktose- und histaminarmen Ernährung und können sich mit Gleichgesinnten austauschen. Gleichgesinnte sind beispielsweise direkt von Zöliakie betroffene Menschen oder deren Eltern und Freunde, die sich informieren, wie sie ihre Lieben unterstützen können. Wir bieten eine Möglichkeit, dass sich Menschen im gesamten DACH-Raum miteinander vernetzten können ohne dafür extra lange reisen zu müssen. Aus diesem Grund findet das FreeFrom Hero Festival online auf einem virtuellen Festivalgelände statt. An 2 Tagen werden auf 3 verschiedenen Bühnen fachliche Vorträge, Koch- und Backshows sowie ein Community-Austausch geboten.

Da es uns sehr wichtig ist, dass beim FreeFrom Hero Festival korrekte und aktuelle Informationen an Betroffene weitergegeben werden, lassen wir thematisch ausgebildete Personen die Fachvorträge halten. Das führt uns auch zur zweiten Zielgruppe, die das FreeFrom Hero Festival besucht: die Ernährungsfachkräfte. Diese bekommen beim Festival die Möglichkeit sich fachlich weiterzubilden, zu netzwerken und ihre Klient:innen besser zu verstehen. Ganz nebenbei sammeln sie auch noch Fortbildungspunkte, die von deutschen und schweizerischen Ernährungsgesellschaften anerkannt werden, wie die DGE, VDOE, VDD usw. In dem virtuellen Messebereich gibt es die Möglichkeit sich über neue Frei-von-Produkte zu informieren, direktes Feedback zu geben oder Wünsche zu äußern.

Wie viele Menschen sind denn von diesen Einschränkungen betroffen? Und wie haben sich Betroffene bisher geholfen?

Lebensmittelunverträglichkeiten bringen eine große Problematik mit sich und betreffen viele Menschen weltweit. Allein in Deutschland liegt die Prävalenz von Zöliakie bei 0,9% und die einer Laktoseintoleranz bei 16%. Die Prävalenzen von einer Fruktosemalabsorption und einer Histaminunverträglichkeit zu beziffern, ist hingegen eine große Herausforderung, da die Symptome besonders mannigfaltig sind und eine Diagnosestellung schwerer fällt. Betroffene haben Schmerzen, wenn sie bestimmte Lebensmittel konsumieren und bekommen Angst vor dem Essen, Angst davor das falsche zu essen. Sie lassen oftmals ganze Lebensmittelgruppen weg, in der Hoffnung, dass es ihnen damit besser geht. Dabei beachten sie nicht immer, dass das auch einen Nährstoffmangel hervorrufen kann, der wiederum gesundheitliche Spätfolgen mit sich bringen kann. Dabei meine ich nicht nur brüchige Fingernägel, sondern z.B. die Knochenschwundkrankheit Osteoporose.

Zum Glück ist diese Problematik bereits länger bekannt und Organisationen, wie u.a. die Deutsche Zöliakie Gesellschaft, die Facebookgruppe Zöliakie-Austausch oder das ZöliNet, bieten Betroffenen Hilfestellungen an. Da jeder Mensch ein Individuum ist und Geschmäcker und Lernmethoden unterschiedlich sind, fühlt sich auch nicht jeder von jedem Hilfsangebot angesprochen. Mit dem FreeFrom Hero Festival unterstützen wir Betroffene mittels eines Edutainment-Pakets und vereinen fachliche Informationen mit Unterhaltung.


Bei unserem Deep-Dive geht es um den Zusammenhang zwischen Ernährung und psychischem Wohlbefinden. Wo spielt ihr da eine Rolle?

Wenn die Ernährung von Betroffenen, also deren Essen, ihnen Schmerzen bereitet, dann beeinträchtigt dies auch sehr schnell das psychische Wohlbefinden. Das kennt jeder von einer Magen-Darm-Erkrankung. Wer hat da schon gute Laune, wenn der Bauch krampft und man sich nicht weit von der Toilette wegbewegen kann. Am Beispiel der Zöliakie kommt es über einen längeren Zeitraum zusätzlich zu Gefühlen wie Angst und Beklemmung, zu Abgeschlagenheit und Müdigkeit bis hin zu Depressionen. Die Zustände der Erschöpfung und des depressiven Befindens können oftmals auf die Nährstoffdefizite zurückgeführt werden. Ist die Kost glutenfrei, verbessert sich bei vielen Betroffenen das psychische Wohlbefinden, jedoch auch bei einigen leider nicht, was an einer vorliegenden refraktären Zöliakie liegen kann.

Durch Gespräche mit Zöliakie-Patient:innen weiß ich, dass sie sich oftmals ausgeschlossen fühlen. Sie können nicht jedes Restaurant besuchen, unbeschwert bei einem Partybuffet zugreifen, entspannt in den Urlaub fahren oder mit Arbeitskolleg:innen in die Kantine gehen. Hinzu kommt, dass die strikte Ernährungsweise von Betroffenen mit Lebensmittelintoleranzen von außen oftmals nicht ernst genommen, als Phase abgestempelt wird und sich Betroffene doch bitte nicht so anstellen sollen. Wir bieten mit dem FreeFrom Hero Festival die Möglichkeit, dass wir Betroffenen eine Stimme geben, indem wir laut werden und medial auffallen. Wir wünschen uns, dass desto mehr Menschen von Lebensmittelintoleranzen gehört haben, diese umso mehr Verständnis zeigen und entsprechende Speisen in ihren Lokalitäten anbieten.

Wie empfindest Du die Zusammenarbeit zwischen Ärzt*innen und Ernährungstherapeut*innen? Wird Betroffenen gut geholfen? Worauf sollten Ärzt*innen und Ernährungstherapeut*innen achten?

Ich sehe dort noch viel Entwicklungspotential. Meines Erachtens kocht aktuell noch jeder sein eigenes Süppchen und das sollte sich schnell ändern. Betroffene fühlen sich gerade nach der Diagnose oft allein gelassen und haben niemanden zum Austauschen. Oft durchleben Patient*innen einen jahrelangen Ärztemarathon, weil ihre Symptome entweder nicht als solche wahrgenommen werden oder sie einer Unverträglichkeit nicht immer zugeordnet werden können – insbesondere weil die Symptome so vielfältig sind. Ärzt*innen und Ernährungsfachkräfte sollten unbedingt darauf achten, dass sie den Mensch hinter der Diagnose sehen und die Informationen allgemeinverständlich und praktisch an die Lebenssituation von Patient*innen anpassen.

Im diesjärigen Trendreport Ernährung taucht das erste Mal "Ernährung für den Darm" auf der TOP-10-Liste auf. Welche Rolle spielt Darmgesundheit in Zusammenhang mit Lebensmittelunverträglichkeiten?

Hippokrates hat es so schön gesagt „Der gesunde Darm ist die Wurzel aller Gesundheit“ und bei einer Lebensmittelunverträglichkeiten kränkelt die Wurzel. Im Darm können Nahrungsbestandteile starke Entzündungsreaktionen und Durchfälle auslösen, wodurch die Nährstoffe aus der Nahrung erst gar nicht im Körper aufgenommen werden können. Ein Nährstoffmangel ist die Folge. Dazu gesellt sich, dass sich gesundheitsfördernde Darmbakterien in so einem Darmmilieu unwohl fühlen und sich Krankheitserreger besser vermehren können. Gebildete Entzündungsmediatoren verbleiben nicht nur im Darm, sondern gelangen in alle anderen Gewebe und Organe und können dort Folgeerkrankungen, wie Diabetes mellitus, auslösen. Daher ist eine abwechslungsreiche, frei von und antiinflammatorische Ernährung so wichtig, um die Darmgesundheit und den ganzen Körper zu stärken.


Beim FreeFrom Hero Festival geht es auch um eine pflanzenbasierte Ernährung. Was hat das mit Lebensmittelintoleranzen zu tun?

Eine pflanzenbasierte und -betonte Ernährung bringt viele gesundheitliche Vorteile mit sich, wie eine geringere Entzündungslast, ein vielfältigeres Mikrobiom und ein geringeres Risiko für Volkskrankheiten. Zudem ist eine pflanzliche Ernährung klimafreundlicher und liegt im Trend. Es gibt allerdings auch ein höheres Risiko für einen Nährstoffmangel, wenn ganze Lebensmittelgruppen weggelassen werden. Auch bei Lebensmittelintoleranzen werden bestimmte Nahrungsmittel gemieden und der Darm kann Nährstoffe weniger gut resorbieren. Damit die gesundheitlich positiven Aspekte einer pflanzlichen Ernährung auch bei Lebensmittelintoleranzen genutzt werden können, ohne einen doppelten Nährstoffmangel hervorzurufen, klären wir beim FreeFrom Hero Festival auf, was unbedingt beachtet werden muss und warum.

Zudem sind Menschen, die sich rein pflanzlich ernähren, unser Vorbild. Noch vor einigen Jahren wurden Veganer*innen als Öko-Spinner abgestempelt, es gab kaum vegane Produkte im Supermarkt und in Restaurantspeisekarten bestand die einzige pflanzenbasierte Speise aus Pommes mit Ketchup. Heute allerdings ist die pflanzenbasierte Ernährungsweise in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die Supermärkte sind voll von veganen Alternativen und Restaurants bieten leckere pflanzliche Speisen an. Das wollen wir auch für unsere FreeFrom Heroes erreichen.

Du moderierst auch den Podcast „Spitz die Löffel“. Worum geht es und wer ist die Zielgruppe?

Neben meinem eigenen Podcast THE FOOD TALKS moderiere ich seit Anfang 2022 den Podcast SPITZ DIE LÖFFEL!. Dieser Podcast ist von IN FORM, Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung, der durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert wird. In jeder Folge spreche ich mit eine*r Ernährungsexpert*in über sein/ihr Fachgebiet. Es macht einen riesigen Spaß, weil ich interessante Menschen treffe und zeitgleich mit den Hörer*innen Neues lernen darf. Die Zielgruppe sind Personen, die sich für einen gesunden Lebensstil interessieren und sich inspirieren lassen möchten, dies in ihrem Alltag umzusetzen. Immer am Ende eines Monats gibt übrigens eine neue Folge.


Wie sieht die Zukunft der Unverträglichkeiten aus. Was wünscht ihr euch?

Wir wünschen uns, dass es zukünftig ganz normal wird, vor einer privaten oder geschäftlichen Einladung zu fragen, was jemand essen möchte und kann und dass dies ohne Wertung angenommen und umgesetzt wird. Selbiges würden wir sehr gern in Restaurants, Kantinen und Imbissen sehen. Wir wünschen uns Inklusion statt Exklusion für Menschen mit Lebensmittelintoleranzen, dass Toleranz und Akzeptanz gelebt werden und in einem sicheren Lebensmittel- und Speisenangebote für alle und überall gipfeln. Wir wollen alle an einem Tisch sehen.

 

Dr. Ann-Kristin Dorn ist Ernährungswissenschaftlerin und unterstützt Menschen mit ihrer Ernährungsberatung THE FOOD TALKS und ihrem gleichnamigen Podcast, sich gesund und ausgewogen zu ernähren. Zudem richtet sie das jährlich, online stattfindende FreeFrom Hero Festival aus, das sich für Menschen mit Lebensmittelunverträglichkeiten einsetzt und Ernährungsfachkräfte weiterbildet. Das Interview wurde schriftlich geführt durch Bastienne Neumann. Bastienne kuratiert unser Fokusthemas "Ernährung, Psyche und Wohlbefinden", mit dem wir uns bei NUTRITION HUB von Nov. 2021 bis Februar 2022 befassen.


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