"Food is Medicine"-Programme senken in den USA Gesundheitskosten - das lernen wir davon
- Simone Frey
- 21. Mai
- 7 Min. Lesezeit
Ein ärztliches Rezept für Obst und Gemüse, bezahlt von der Krankenkasse. Das gibt es. In den USA laufen solche Pilotprojekte: Erste „Food is Medicine“- Programme setzen gezielt Ernährung als Therapieform bei verschiedenen Erkrankungen ein. Bereits seit 2019 unterstützt die Rockefeller Foundation solche Programme und investierte über 100 Millionen US-Dollar in die Erforschung der Programme. Die bisherigen Erkenntnisse zeigen: Es verbessert sich nicht nur die individuelle Lebensqualität, sondern erhebliche Kosten werden eingespar. Einzelne „Food is Medicine”- Programme in den USA konnten die Gesundheitskosten um bis zu 16 Prozent senken und Krankenhausaufenthalte um 49 Prozent reduzieren. Doch wo stehen wir in Deutschland beim Thema? Genau dieser Frage widmeten wir uns beim ersten Event unserer FUTURE BITES 2025. Dieser Artikel fasst zusammen – und zeigt, wo wir stehen, was fehlt und wohin die Reise gehen kann.
Schon in der Antike galt: Ernährung hat Einfluss auf unsere Gesundheit, positiv wie negativ. Und obwohl wir heute mehr über Nährstoffe, Krankheitsursachen und Therapieansätze wissen als je zuvor, spielt Ernährung in der ärztlichen Versorgung noch keine Hauptrolle.
Wie kann Ernährung ganz konkret Teil der medizinischen Versorgung werden? In den USA zeigt eine wachsende Zahl an Pilotprogrammen, wie das gelingen kann. Maßgeblich vorangetrieben wird die Bewegung durch das Food is Medicine Institute an der Tufts University in Massachusetts – ein interdisziplinäres Zentrum, das Programme entwickelt, evaluiert und in das Gesundheitssystem integriert.
Ein von dort entwickeltes Pyramidenmodell hilft, ernährungsbasierte Interventionen systematisch zu strukturieren: von breiten Maßnahmen bis hin zu individuell abgestimmten Mahlzeiten. Diese können laut des Instituts präventiv und therapeutisch eingesetzt werden. An der Basis der Pyramide stehen präventive Maßnahmen in Form von politischen Programmen, die darauf abzielen, den allgemeinen Zugang zu gesunder Ernährung zu verbessern. Dies umfasst beispielsweise Subventionen für gesunde Lebensmittel oder Bildungsprogramme zur Ernährung. Die nächste Ebene beinhaltet staatliche Initiativen, die darauf ausgerichtet sind, Ernährungsunsicherheit und Hunger zu bekämpfen.

In den oberen Ebenen der Pyramide befinden sich spezifische Maßnahmen, die vor allem therapeutisch wirken sollen: Produce Prescription Programs, Medically Tailored Groceries und Medically Tailored Meals. Diese „Food is Medicine”-Programme zeichnen sich durch die gezielte, wissenschaftlich fundierte Nutzung von Ernährung als Bestandteil der medizinischen Versorgung zur Behandlung und Unterstützung bei Krankheiten aus. Sie sind also kein Ersatz, sondern ein ergänzender und oft grundlegender Baustein in der Behandlung vieler Erkrankungen.
„Food is Medicine”-Programme und ihre Wirksamkeit
Die sogenannten Produce Prescriptions stehen für eine vergleichsweise niederschwellige, aber wirkungsvolle Maßnahme: Ärzt:innen stellen Patient:innen mit erhöhtem Risiko für ernährungsbedingte Erkrankungen sowie sozioökonomischen Herausforderungen Gutscheine oder Guthabenkarten für den Kauf von Obst und Gemüse aus. Studien zeigen: Diese Maßnahme erhöht den Obst- und Gemüseverzehr signifikant, senkt den Konsum ungesunder Lebensmittel und verbessert Gesundheitsmarker wie den BMI, den Blutzucker (HbA1c) und die Notwendigkeit von Antibiotika bei Kindern. Ein Modellrechnungs-Szenario zeigt die Tragweite: Ein lebenslanger 30 %-Zuschuss auf Obst und Gemüse könnte in den USA 1,93 Millionen kardiovaskuläre Erkrankungen verhindern – und dabei 40 Milliarden US-Dollar an Gesundheitskosten einsparen.
Medically Tailored Groceries liefern individuell zusammengestellte Zutatenpakete für chronisch kranke Patient:innen, die noch selbst kochen können. Ziel ist eine ausgewogene, krankheitsspezifische Ernährung, z. B. bei Diabetes oder Schwangerschaftskomplikationen. Zwar ist die Studienlage hier noch im Aufbau, erste Ergebnisse aus laufenden randomisierten Studien zeigen jedoch positive Effekte:
Steigender Obst- und Gemüseverzehr
Bessere Medikamententreue (Adhärenz)
Verbesserte Blutzuckerwerte bei Diabetiker:innen
Auch das Potenzial zur Kostensenkung wird deutlich, auch wenn belastbare Zahlen noch ausstehen.
Die intensivste Form sind fertig zubereitete, individuell zugeschnittene Mahlzeiten für Patient:innen mit komplexen Krankheitsbildern, die weder selbst kochen noch einkaufen können: Medically Tailored Meals. In mehreren US-Bundesstaaten wurden solche Programme in die öffentliche Gesundheitsversorgung aufgenommen. Die Wirkung ist gut belegt:
16 % weniger Gesundheitskosten
49 % weniger Krankenhausaufenthalte
72 % weniger Einweisungen in Pflegeheime
Die drei vorgestellten Interventionen machen deutlich: Food is Medicine kann entlang eines Spektrums wirken – von präventiv über unterstützend bis hin zur vollwertigen Therapie. Die USA liefern mit ihren Pilotprogrammen wertvolle Evidenz, die zeigt, dass gezielte Ernährung in der Versorgung wirkt, gesund hält und gleichzeitig Gesundheitsausgaben reduziert. Die beschriebenen Ergebnisse in Bezug auf alle drei vorgestellten Maßnahmen sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst.
Systematisch wirksam: Wie Großbritannien Ernährung in die Versorgung bringt
Auch in Großbritannien zeigt sich: Ernährung wirkt, wenn sie systematisch eingebunden wird. Dort gibt es Social Prescribing-Modelle, bei denen Hausärzt:innen Patient:innen gezielt an Ernährungsberater:innen, Kochgruppen oder Einkaufstrainings weitervermitteln – inklusive Kostenübernahme durch das staatliche Gesundheitssystem (Boggild).
Ein weiteres Beispiel stellt eine von Pflegekräften geleitete Ernährungsintervention für Patient:innen mit Prädiabetes dar. Folgende Ergebnisse gab es nach sechs Monaten:
Teilnehmende der Interventionsgruppe verloren durchschnittlich 1,3 kg, während die Kontrollgruppe 0,8 kg zunahm
18 % der Interventionsgruppe reduzierten ihr Ausgangsgewicht um mindestens 5 %
Der HbA1c-Wert sank in der Interventionsgruppe, während er in der Kontrollgruppe anstieg
Was können wir aus diesen Programmen lernen? Erfolgsversprechende Faktoren umfassen u. a. die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Fachkräften, sichere Gesundheitsbudgets und Finanzierungsmodelle und folglich die Stärkung alltagsnaher Maßnahmen in der Praxis.
Warum „Food is Medicine“ in Deutschland jetzt wichtiger ist denn je
Die Relevanz von Ernährung als Teil der Gesundheitsversorgung ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Frage. Chronische, ernährungsassoziierte Erkrankungen gehören zu den häufigsten Ursachen für Einschränkungen der Lebensqualität, Frühverrentung und Pflegebedürftigkeit. Die wirtschaftlichen Folgen sind beträchtlich und die Fakten alarmierend:
14 Prozent aller Todesfälle in Deutschland sind auf ungesunde Ernährung zurückzuführen, so das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL).
Eine Studie beziffert die direkten Gesundheitskosten durch übermäßigen Zucker-, Salz- und Fettkonsum auf 16,8 Milliarden Euro pro Jahr – allein in Deutschland.
Und laut der FAO entstehen durch schlechte Ernährung und deren Umweltfolgen versteckte Kosten in Höhe von 7 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – das entspricht über 250 Milliarden Euro jährlich.
Chronische Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen prägen das Krankheitsbild ganzer Gesellschaften. Und sie haben eines gemeinsam: Sie sind in hohem Maße ernährungsassoziiert. Typ-2-Diabetes betrifft derzeit über 8 Millionen Menschen in Deutschland, mit jährlich rund 500.000 Neuerkrankungen. Die Erkrankung entwickelt sich schleichend, ist aber in vielen Fällen durch Lebensstilfaktoren, insbesondere Ernährung, beeinflussbar. Adipositas ist eine der sichtbarsten Formen ernährungsmitbedingter Erkrankungen. Laut Robert Koch-Institut gilt in Deutschland rund ein Viertel der Erwachsenen als adipös – Tendenz steigend. Die Ursachen liegen oft in einem dauerhaft positiven Energiehaushalt, fehlender Bewegung und einem Angebot an günstigen, aber nährstoffarmen Lebensmitteln.
Daten aus dem 15. DGE-Ernährungsbericht zeigen, dass gezielte Ernährungstherapie klinische Ergebnisse verbessern und signifikante Kosten einsparen kann. Allerdings mangelt es in Deutschland an systematischen Ansätzen.
Wie steht’s um Ernährung im deutschen Gesundheitssystem?
Strukturelle Lücken überwinden
In Deutschland besteht für viele Patient:innen ein Anspruch auf Ernährungstherapie – insbesondere bei ernährungsmitbedingten Erkrankungen wie Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2 oder Fettstoffwechselstörungen. Die gesetzliche Krankenversicherung kann nach § 43 SGB V die Kosten anteilig übernehmen, wenn eine ärztliche Notwendigkeitsbescheinigung vorliegt. Dennoch ist Ernährungstherapie in der Praxis eher Ausnahme als Regel – so schilderten es mehrere Ernährungsexpert:innen im Rahmen der Nutrition Hub FUTURE BITES. So gelte Ernährung nach wie vor häufig als individuelle Lebensstil-Frage – nicht als zentraler Bestandteil medizinischer Versorgung.
Als Grund dafür nannten viele nicht das Fehlen gesetzlicher Rahmenbedingungen, sondern einen Mix aus strukturellen Barrieren: Die Therapie wird zu selten verordnet, Patient:innen kennen ihren Anspruch oft nicht – und der Selbstzahleranteil sowie bürokratische Hürden schrecken viele ab.
Als zentrale Chance nannte eine unserer Vortragenden, Dr. Silja Schäfer, eine stärkere, strategisch verankerte Zusammenarbeit zwischen Ärzt:innen und Ernährungsfachkräften – über Sektorengrenzen hinweg und mit klaren Zuständigkeiten. Sie appellierte deshalb auch an die Ernährungsfachkräfte im Publikum: Sie sollten aktiv auf Praxen zugehen und Kooperationen suchen. Sie seien nicht nur wertvolle, sondern unverzichtbare Partner:innen im Gesundheitswesen – und könnten gemeinsam mit Ärzt:innen entscheidend dazu beitragen, Ernährung als festen Bestandteil der medizinischen Versorgung zu etablieren.
Deutschland im Wandel – inspirierende Initiativen
Auch in Deutschland entstehen Initiativen, die Ernährung stärker in die medizinische Praxis integrieren. Ein Beispiel ist der Culinary Medicine Deutschland e.V., der seit 2020 an der Universitätsmedizin Göttingen ein Wahlpflichtfach für Medizinstudierende anbietet. In sogenannten Teaching Kitchens lernen diese, wie sie Patient:innen mit evidenzbasierter Ernährung und praktischer Kochkompetenz alltagsnah beraten können.
Ebenfalls aktiv ist PAN D-A-CH, die deutschsprachige Regionalgruppe der Physicians Association for Nutrition. Sie engagiert sich für die Integration von Ernährung in die medizinische Aus- und Weiterbildung – etwa durch Fortbildungen, Vorträge an Universitäten und die Entwicklung von Lehrplänen.
Ein weiteres Pionierprojekt ist „Station Ernährung“ in Bayern, ein Modell der Deutschen Gesellschaft für Ernährung im Rahmen der Initiative IN FORM und eine der wenigen Schnittstellen zwischen Gesundheitsministerium und BMLEH. Hier erhalten Patient:innen mit ernährungsbedingten Erkrankungen wie Diabetes oder Adipositas strukturierte Beratung und Therapie – mit dem Ziel, Krankheitsverläufe zu verbessern und die Lebensqualität langfristig zu steigern.
Vision 2030: Wie könnte Ernährung im Gesundheitssystem aussehen?
Bei den Nutrition Hub FUTURE BITES wurde lebendig diskutiert – mit praktischer Expertise, kritischem Blick und vor allem: lösungsorientiert. Dr. Silja Schäfer und Dr. Heike Niemeier brachten gemeinsam mit uns ihre Perspektiven ein und diskutierten mit den Teilnehmenden: Was muss passieren, damit sich etwas bewegt?
Stellen wir uns vor: Im Jahr 2030 ist Ernährung fest im Gesundheitssystem verankert. In jeder hausärztlichen Praxis ist sie so selbstverständlich Thema wie Blutdruck oder Medikation. Patient:innen erhalten je nach Bedarf Rezepte – nicht nur für Medikamente, sondern für Ernährungsberatung, Kochkurse oder Lebensmittelgutscheine. Ärzt:innen arbeiten eng mit Ernährungsfachkräften zusammen, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich.
Jetzt handeln: Ernährung gemeinsam ins Gesundheitssystem bringen
Die Diskussion beim Event zeigte: Es braucht beides – Systemveränderung und individuelles Engagement. Die Frage ist nicht entweder–oder, sondern sowohl–als auch.
Langfristige Veränderungen: Strukturelle Hebel nutzen
Veränderung braucht politische Rahmensetzung, verlässliche Finanzierung und institutionelle Verankerung. Hier liegt Verantwortung bei Politik, Kassen und Ausbildungssystemen. Bei unserem Event haben wir diskutiert: Was können Lösungsansätze sein? Braucht es ein neues Präventionsgesetz, das Ernährung explizit als Bestandteil medizinischer Grundversorgung anerkennt? Welche Finanzierungsmodelle sind notwendig, um Ernährungstherapie, Beratung und Prävention fest in der kassenärztlichen Regelversorgung zu verankern? Wie können wir interprofessionelle Versorgungsstrukturen schaffen, in denen Ernährungsfachkräfte, -therapeut:innen, -berater:innen und Ärzt:innen gleichberechtigt zusammenarbeiten?
Diese zwei Dinge kann jede:r Ernährungsexpert:in jetzt tun
Die gute Nachricht: Veränderung beginnt nicht erst auf Bundesebene. Es braucht die Community: Ernährungsberater:innen, Diätolog:innen, Ökotropholog:innen, Ärzt:innen, Hebammen, Psycholog:innen – alle, die Ernährung tagtäglich vermitteln, können Brücken bauen. Zwischen Disziplinen, aber auch zwischen System und Mensch.
Kooperationen anstoßen: Mit Hausarztpraxen, Pflegeeinrichtungen, Kliniken – als kompetente Partner:innen.
Sichtbar werden: In Netzwerken, auf Veranstaltungen, in Medien – um das Thema Ernährung öffentlichkeitswirksam zu platzieren.
Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des Nutrition Hub Future Bite Events am 06. Mai 2025 in Hamburg. Wir bedanken uns für die Bereitstellung der schönen Räumlichkeiten bei essenZ Hamburg.
Die Nutrition Hub Future Bites 2025 werden von Dr. Schär gefördert.