Intervallfasten, Saftfasten, Basenfasten - die Zeitschriften sind voll von den unterschiedlichsten Fastenformen. Das von Dr. Otto Buchinger entwickelte Heilfasten feiert sein 100-jähriges Bestehen. Und für mich ist es soweit: Ich werde 10 Tage in der Buchinger-Wilhelmi-Klinik am Bodensee heilfasten. Meine Gefühle schwanken zwischen Vorfreude und Sorge. Ich freue mich darauf abzuschalten und etwas für meine Gesundheit zu tun. Und gleichzeitig sorge ich mich, wie ich diese Zeit durchstehen soll, wenn alles rund ums Essen - geniessen, schmecken, Wein, Kaffee - wegfällt? Und das für insgesamt 10 Tage! Ich hatte im Vorfeld versucht, meinen Aufenthalt kürzer zu planen. Aber das ärztliche Team teilte mir freundlich mit, dass ich bereits die kurze Variante des Fastens gebucht habe. Nach Dr. Otto Buchinger (1878 – 1966) beträgt die optimale Fastendauer 2 – 4 Wochen. Heilfasten für weniger als zehn Tage sei nicht gesund für Körper und Geist. Als ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis von meinem bevorstehenden Aufenthalt berichtete, hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Viele waren besorgt und stellten in Frage, ob ich das Fasten wirklich brauche. “Abnehmen bräuchte ich ja nun wirklich nicht.” Fasten und Abnehmen, das ist die vorherrschende, weit verbreitete Assoziation. Dabei hat Fasten eher weniger mit Abnehmen zu tun. Muss ich fasten? Oder anders gefragt: Muss ich 365 Tage im Jahr, 3-Mal pro Tag essen? Wohl eher nicht.
Faszination Fasten - oder doch wissenschaftliche Evidenz?
Das Fasten finde ich seit meinem Studium faszinierend: Epidemiologische Studien zeigen, dass Bevölkerungsgruppen, die aus religiösen Gründen regelmäßig, wie z.B. einmal jährlich an Ostern oder zu Ramadan, fasten, durchschnittlich länger leben als Bevölkerungsgruppen, die nicht fasten. Was diese Beobachtungsstudien zeigen, konnten Wissenschaftler in den letzten Jahren auf Zellebene bestätigen. Wenn durch das Fasten keine Kohlenhydrate, Fette oder Proteine zugeführt werden, beginnt der Körper Fett aus dem körpereigenen Fettgewebe abzubauen. Die dabei entstehenden Fettsäuren und Triglyceride werden zur Energiegewinnung genutzt; zudem verstoffwechselt die Leber Fettsäuren in Ketone. Diese Stoffwechsel-Umstellung, der “metabolic switch”, ist das Besondere am Fasten. Die Ketone nutzt das Gehirn zur Energiegewinnung und diese verbessern dort gleichzeitig die Gehirnfunktionen. Aus den Ketonen bildet der Körper zudem Moleküle, die die Gesundheit und das Altern positiv beeinflussen: Die Autophagie wird angeregt. Bei diesem Prozess baut die Zelle Zellbestandteile ab und verwertet diese. Außerdem wird die antioxidative Kapazität der Zellen erhöht. Die Datenlage um diese Stoffwechselvorgänge ist noch relativ neu. Erst 2016 hat der Zellbiologie Yoshinori Ohsumi den Medizin-Nobelpreis für seine Arbeit zur Autophagie, also das “Selbst-Recycling” der Zelle, erhalten. Zum Thema Autophagie haben wir auch im Interview mit Prof. Dr. Andreas Michalsen gesprochen.
47 Stoffwechselvorgänge und die Psyche profitieren vom Fasten
Um vorab ausschließen zu können, dass etwas gegen meinen Aufenthalt spricht, erhielt ich eine Liste mit Indikationen und Kontraindikationen: Heilfasten wirkt positiv auf 47 (pathogene) Stoffwechselvorgänge - von Herzinsuffizienz, Rückenschmerzen, Migräne, chronisch-entzündliche Magen-Darmerkrankungen, Akne bis hin zu Depressionen. Dem gegenüber stehen nur sechs Kontraindikationen (siehe unten). Ich bin beeindruckt. Jegliche Sorge ist verflogen. Abnehmen steht nicht auf der Liste.
Das Fasten zeigt Wirkung bei oben stehenden Erkrankungen. Eine Fastentherapie ist kontrainduziert bei Kachexie, Anorexia nervosa, dekompensierte Hyperthyreose, fortgeschrittene zerebro-vaskuläre Insuffizienz bzw. Demenz, fortgeschrittener Leber- oder Niereninsuffizienz sowie Schwangerschaft und Stillzeit.
10 Tage Heilfasten und wie ich sie erlebt habe
Ankunft (Tag 1): Am Samstagnachmittag komme ich in der Klinik in Überlingen am Bodensee an. Das erste Mal in meinem Leben interessiere ich mich für Kalorien und möchte wissen, wie viele Kalorien ich am nächsten Tag - dem sogenannten Entlastungstag - bekomme: Über den Tag insgesamt 400 kcal. Das wird hart. Die Klinik ist sehr modern gestaltet, wie ein 5-Sterne-Hotel und lädt zum Verweilen mit Blick auf den See ein. In meinem Zimmer liegt ein Apfel, den ich - ohne darüber nachzudenken - esse. Zum Abendessen gehe ich in das sogenannte Restaurant. Dort sind alle, die mit dem Fasten starten oder es beendet haben. Das Restaurant ist sehr spartanisch eingerichtet, nicht besonders gemütlich. Ich werde einem Tisch zugeteilt mit zwei anderen Frauen, die ebenso wie ich, zur gleichen Zeit ihren Aufenthalt beginnen. Zu essen gibt es viel Gemüse - roh und gekocht - und wunderbar wohlschmeckend. Der Chefkoch Phillipp Troppenhagen, der viele Jahre in Führungspositionen der gehobenen Gastronomie tätig war, serviert gemeinsam mit dem Ernährungsexpert:innen-Team der Klinik wunderbare Speisen. Das Essen ist ein Genuss! Mit meinen Essensbegleiterinnen, die beide auch das erste Mal fasten, tausche ich mich über unsere Ängste des bevorstehenden Fastens aus.
Entlastungstag (Tag 2) : Am Sonntag gibt es sehr viel zu organisieren. Zuerst gehe ich - wie ab sofort jeden Morgen - zur Stationsschwester zum Blutdruck und Gewicht messen. Danach gibt es mein letztes Frühstück, einen riesigen Teller Obst. Dann fülle ich einen sehr ausführlichen Anamnese-Bogen aus. Wie schön, endlich fragt jemand ganzheitlich nach meiner Gesundheit und meinem Wohlbefinden! Den Bogen bespreche ich Schritt für Schritt in 50 Minuten mit “meiner” Fastenärztin. Da ich nicht abnehmen möchte, beschließen wir für mich ein leicht modifiziertes Fasten mit täglich 400 kcal. Heilfasten nach Dr. Otto Buchinger beinhaltet 250 kcal pro Tag in Form von frisch zubereiteten, salzarmen Gemüsesuppen und Säften sowie mind. 3 Liter Getränke in Form von Kräutertee und Wasser. Um eine Übersäuerung zu vermeiden, werden täglich basische Nahrungsergänzungsmittel eingenommen. Trotzdem passt das Ärzt:innen-Team das Heilfasten für jede:n Patient:in individuell an. Das fühlt sich gut an.
Trotzdem steigt im Laufe des Tages das Unbehagen: Das letzte Mahl steht mir bevor. Außerdem macht mir ein anderes unangenehmes Thema zu schaffen: Die Darmentleerung. Wäre das schön, wenn das Heilfasten auch ohne diesen Prozess möglich wäre. Um meinem Unbehagen Luft zu verschaffen, rufe ich die Fasten-Expertin Laura Junge an, was sie mir empfiehlt (Glaubersalz, Abführ-Tropfen oder Einlauf). Sie nimmt mir die Angst vor allen Varianten und schließlich entscheide ich mich für Tropfen, da diese weniger Kopfschmerzen verursachen.
1. Fastentag (Tag 3): Das Fasten beginnt. Ich wache das erste Mal seit meiner Ankunft ohne Kopfschmerzen auf, obwohl ich wenig geschlafen habe. Anders als oft berichtet wird, habe ich keine intensiven Träume (auch den Rest der Woche nicht), sondern schlafe schlecht ein und wache früh auf. Als “Frühstück” hole ich mir einen Tee und trinke diesen auf der Terrasse mit Blick auf den Bodensee. Vormittags gehe ich in die Sporthalle und besuche zwei Sportkurse. Um 12 Uhr gehe ich in den Salon für das Fastenmittagessen. Wählen kann ich zwischen einem frisch gepressten Saft oder einer Suppe (sehr dünn und kaum gesalzen). Der Salon ist wie ein Wohnzimmer eingerichtet, mit Sesseln und kleinen Tischen und sanfter Klaviermusik im Hintergrund. Ich treffe meine Weggefährtinnen aus dem Restaurant, die sich bereits mit anderen Fastenden unterhalten. Der Austausch mit den anderen Menschen in der Klinik hat mir von Anfang an sehr gut gefallen. Die Gespräche waren unkompliziert und sehr offen. Schnell berichtete ich oder auch andere mir von den Beweggründen zu fasten. Es ergaben sich sehr tiefsinnige, wohltuende Gespräche, die weder zu viel noch zu intensiv waren.
Das Buchinger-Wilhelmi-Team interviewt mich während des Fastens (war nicht mein bester Tag) ;).
2. Fastentag (Tag 4): An meinem zweiten Fastentag habe ich ein volles Programm: Ich nehme die Angebote des Wochenprogramms wahr, gehe zum Yoga, zum Achtsamkeits-Workshop, zum Taizé-Singen und abends zum Autogenen Training. Das Wochenprogramm spricht mich sehr an, und doch beschließe ich ab sofort eine Pause vom Wochenprogramm zu machen und einfach nur die Momente zu genießen. Habe ich Hunger? Nein, ich denke ab und an an ein Gericht, aber Hunger verspüre ich nicht. Langsam lerne ich mehr und mehr Menschen kennen, die gleichzeitig mit mir fasten. Viele sind bereits mehrmals hier gewesen. Genau das macht die Buchinger-Wilhelmi-Methode aus. Sie wirkt nicht nur medizinisch-körperlich, sondern in Kombination mit der Begegnung mit einer Gruppe gemeinsam fastender Menschen und in Kombination mit Inspiration. Ich finde Inspiration im Atelier, wo ich meiner Intuition freien Lauf lasse - male, klebe, schneide.
3. Fastentag (Tag 5): Ich habe meine Routine entwickelt und genieße meinen Tagesablauf: Morgenvisite bei der Stationsschwester, Frühstückstee, lesen, Suppe im Salon, Ausruhen im Bett mit warmem Leberwickel*, Nachmittagstee, 30 min im warmen Pool schwimmen, in die Sonne blicken, Abendsuppe und inspirierende Unterhaltungen mit den anderen in der Klinik.
*Für die Wirkung des Leberwickels gibt es übrigens keine wissenschaftliche Evidenz. Was gezeigt werden konnte, ist, dass Wärme regenerative Prozesse in der Leber auslösen kann.
4. Fastentag (Tag 6): Ich habe wieder schlecht geschlafen und fühle mich abgeschlagen. Meine Laune ist schlecht. Interessanterweise geht es den anderen ähnlich, als ich sie treffe. Wir scheinen uns im “Fastentief” zu befinden. Wir fühlen uns unwohl, aber auch nicht so unwohl, dass wir auf die Idee kämen, abzubrechen. Diesen Gedanken hat niemand von uns.
5. + 6. Fastentag: Schon am nächsten Tag fühle ich mich gut und genieße wieder meinen Aufenthalt. Ich schaue mir die wissenschaftlichen Studien zur Buchinger-Wilhelmi-Methode genauer an. Bis heute gibt es 15 Publikationen der Klinik. Seit 2006 setzt sich die wissenschaftliche Leiterin der Klinik, Dr. Francoise Wilhelmi de Toledo, für mehr wissenschaftliche Evidenz zum Heilfasten ein. Die Patient:innen der Klinik sollen von den neuesten Fortschritten in Medizin und Forschung profitieren. Zudem liegt es der Klinikleitung und der Geschäftsführung am Herzen, Ärzt:innen, Ernährungs- und Gesundheitsexpert:innen über die positive Wirkung des Fastens bei vielen chronischen Erkrankungen aufzuklären. Alle zwei Jahre veranstaltet Buchinger Wilhelmi einen internationalen wissenschaftlichen Kongress. Hier werden Wissenschaftler:innen eingeladen, um ihre Forschungsergebnisse vorzustellen und mit Klinikern zu diskutieren.
Fastenbrechen (Tag 9): Ich gehe um 9 Uhr mit auf die zweistündige Wanderung durch die Natur. Ich habe Angst vor einer Unterzuckerung oder Kreislaufbeschwerden. Aber nichts dergleichen. Ich könnte Bäume ausreißen, fühle mich fit, klar und voller Lebensfreude! Das ist wohl das Fastenhoch. Mittags kommen wir zurück. Ich erhalte meine erste “feste” Mahlzeit, Apfelmus mit zwei Nüssen. Ich bin glücklich: Ich kann wieder essen. Auf meinem Zimmer liegt ein Apfel. Mein Aufenthalt beginnt und endet mit ihm.
Nach einem Aufbautag (Tag 10) mit 800 kcal verlasse ich an Tag 11 morgens die Klinik. Auf meiner Rückreise schwirrt mir der Kopf: Sind unsere gängigen Empfehlungen, 3-Mal täglich zu essen, tatsächlich richtig? Und profitiert unser Körper von der Menge Kohlenhydrate, die offiziell von uns Expert:innen empfohlen wird? Wird die Ernährungspyramide der Zukunft Fastenphasen empfehlen? Ich hole mir erst einmal einen Kaffee, denke ich. Dann merke ich, dass ich mit meiner Wasserflasche zufrieden bin. Kaffee vielleicht morgen.
Im Rahmen des Online-Events “Debunking the Myths of Fasting” hat Nutrition Hub im Jahr 2020 Dr. Francoise Wilhelmi de Toledo als Rednerin gewinnen können. Daraus ist ein reger Austausch zum Thema Fasten entstanden und bei Simone wuchs das Interesse, das Heilfasten selbst zu erleben. Beschrieben wird in diesem Artikel Simones Erfahrungsbericht des Fasten-Arrangements Compact, eine komprimierte Form des Therapeutischen Heilfastens. Die Buchinger-Wilhelmi-Klinik hat ihren Aufenthalt finanziert.
Dieser Erfahrungsbericht stammt von Dr. Simone K. Frey, Gründerin NUTRITION HUB.