Die Frage, die mir von Freunden, Bekannten und Bloggern am häufigsten gestellt wird, ist: „Hat sich deine Ernährung durch das Studium eigentlich verändert?“.
Und meine Antwort lautet: Ja! Aber wahrscheinlich anders, als ihr denkt: Ich bin lockerer geworden. Ich ernähre mich weniger dogmatisch und denke noch weniger über mein Essen nach als noch vor ein paar Jahren.
Die folgende Serie ist eine sehr persönliche. Ich habe selbst eine Weile gebraucht, um mich selbst so reflektieren zu können, wie ich es jetzt tue.
„Clean Eating“ trifft Schönheitswahn
Mit weit mehr als 25 Millionen Instagramfotos unter dem Hashtag #cleaneating und einer breiten medialen Aufmerksamkeit hat wohl schon jeder einmal vom Trend „Clean Eating“ gehört. Die Vollwerternährung 2.0 begeistert vor allem gesundheitsbewusste Menschen und Weltverbesserer. Viele „Clean Eater“ sind vegan.
Doch auch jede Menge Teenager begeistern sich zunehmend für die Diät, die reinere Haut, glänzende Haare, besseren Schlaf und einen inneren „Glow“ verspricht. Junge Frauenmagazine und die sozialen Medien bewerben Zucker als Gift, Mehl als Magenkleber und raffinierte Fette als Energie- und Zellfresser – nur wer auf Clean Eating umsteigt, schafft den Weg raus aus dem Teufelskreis aus Zuckerhigh und Fresskoma, wird endlich ausgeglichen und findet zu sich selbst.
Throwback Mai 2014:
Ich stehe vor einem Straßenladen in Bali. Seit knapp 5 Monaten versuche ich nun schon, komplett auf Zucker zu verzichten. Auch Weißmehl esse ich nur noch selten. Die Regel „Iss nichts, was mehr als 5 Zutaten hat“ setze ich um – im neuseeländischen Supermarkt weiß ich genau, was ich kaufen kann und was nicht.
Doch jetzt stehe in Bali, wo das Essengehen zur Kultur gehört. Wo nur wenige Familien selbst eine Küche besitzen und deshalb ihre Mahlzeiten an den Straßenläden zu sich nehmen. Wo es keine Zutatenliste gibt und die Luft verdächtig nach Frittier-Fett riecht. Und wo alles so verdammt lecker und exotisch aussieht.
Ich stehe nach einer geschlagenen Stunde Suche weinend vor meinem Freund. Ich kann nicht mehr. Der Laden, in dem es laut Trip Advisor rohe Smoothies geben soll, hat zu. Bis auf eine naturbelassende Kokosnuss habe ich bisher nichts gegessen. Jetzt fange ich an, an mir zu zweifeln.
Sollte meine gewählte Ernährungsform wirklich mein Leben diktieren? Sollte sie mir wirklich verbieten, lokale Spezialitäten auszuprobieren, nur weil sie nicht clean sind?
Ein Supermarkt voll Lebensmittel – und du suchst trotzdem nach etwas Essbarem
Clean Eater kochen fast immer selbst. Die Zutaten sind frisch, die Gerichte kreativ und lecker. Das Kochen macht Spaß und das Essen auch – so lange man weiß, was drin ist.
Sobald es allerdings ans Auswärtsessen geht, wird es schwierig. Das Restaurant wählt man lieber selbst aus, um sicher zu gehen, etwas Cleanes bestellen zu können. Zur Geburtstagsfeier bringt man lieber den eigenen Kuchen mit, ohne Weißmehl und raffinierten Zucker. Im Ausland googelt man sich die Finger wund, um das nächste vegane oder zumindest halbwegs gesunde Lokal ausfindig zu machen. Denn noch haben sich nicht alle auf die Clean Eater eingestellt.
Wer sich nach den Grundsätzen von Clean Eating ernähren will, stößt beim Einkaufen auf sehr viele Produkte, die er gemäß dem Konzept nicht essen darf. Selbst in Bio-Supermärkten und Reformhäusern gibt es Convenience-Lebensmittel und verarbeitete Produkte wie Brotaufstriche, Müslimischungen oder Nudelsaucen im Glas, und auch Bio-Lebensmittel enthalten oftmals Zusatzstoffe […] Ernährungsumschau, 07.07.2015
So wird oftmals schon der Gang zum Supermarkt zur Herausforderung – bis man schließlich genau weiß, was man noch essen kann und auf immer mehr Lebensmittel verzichtet.
Orthorexie – Der Zwang, gesund zu essen
Wenn die Angst vor ungesundem, krankmachenden Inhaltsstoffen so stark zunimmt, dass es nur noch ausgewählte Lebensmittel auf den Speiseplan schaffen, wird es krankhaft. Den Zwang, gesund zu Essen nennt man Orthorexie – abgeleitet von dem griechischen Wort Ortho, was korrekt bedeutet.
Orthorektikern ist es egal, wie viel sie essen – was zählt, ist die Qualität des Lebensmittels. Häufig werden „gesunde“ Lebensmittel idealisiert, „ungesunde“ verteufelt – es entsteht eine Angst, sich und seinem Körper etwas Falsches, nicht Gesund- bzw. Krankmachendes zuzuführen.
Pommes werden beispielsweise nicht vom Speiseplan gestrichen, weil sie so viele Kalorien haben, sondern weil gesättigte Fettsäuren die Arterien verstopfen und freie Radikale die Zellen schädigen.
Das ständige Reflektieren seines eigenen Essverhaltens ist sehr anstrengend und zehrt aus – den Geist und den Körper. Dennoch nehmen Orthorektiker das selbst gar nicht so wahr, im Gegenteil: Sie sind davon überzeugt, sich selbst nur Gutes zu tun. Gesundes Essen ist vorbildlich, die Recherche interessant und sich sein Essen selbst vorzubereiten macht Spaß.
Auch ich fühlte mich in meiner absolut „cleanen“ Zeit stark, schön und sehr gesund. Als ich merkte, dass ich immer dünner wurde, meine Gedanken nicht aufhörten, um Essen zu kreisen und ich nicht einen einzigen Industriekeks mehr herunterbekam, ohne davon ein schlechtes Gewissen zu bekommen, zog ich die Reißleine. Ich stand am Rand einer Orthorexie und habe das erst heute erkannt.
Dieser Artikel wurde von Emilie verfasst. Seit ihrem 2. Unisemester bloggt Sie auf emiliestreats.de über ihre zwei Leidenschaften: Die Ernährungswissenschaft und Kochen.