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Gesundheitssystem oder Gesunderhaltungssystem? Interview mit Dr. Anne Fleck

Dr. Anne Fleck ist seit Jahren international anerkannte Expertin für innovative Präventiv- und Ernährungsmedizin. Die Bestsellerautorin ist bekannt aus der TV-Serie „Die Ernährungs-Docs“. Ihre Therapie umfasst eine effektive Kombination modernster Spitzenmedizin, Zuwendung und Naturheilverfahren. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, warum sie sich für ein Gesundheitssystem einsetzt, das die Gesunderhaltung des Menschen im Zentrum sieht und welche Rolle die "Sprechende Medizin" dabei hat. Das Interview ist Teil unseres Fokusthemas "Ernährung, Psyche und Wohlbefinden", mit dem wir uns bei NUTRITION HUB noch bis Ende Februar 2022 befassen werden.

Sie sind Fachärztin für Innere Medizin und Rheumatologie und waren über viele Jahre an der Universität unter anderem auch als leitende Ärztin in der Notaufnahme und auf Intensivstationen tätig. Wie entstand Ihr Interesse für Naturheilkunde und Ernährungsmedizin?

Mein Wunsch war schon immer die Menschen individuell und ganzheitlich zu behandeln. Die Lehre der Epigenetik lehrt uns, wir sind unseren Genen nicht ausgeliefert, unser Lebensstil ist entscheidend. Vor über 20 Jahren begann ich, als ich die Grenzen der Schulmedizin in der Arbeit am Patienten spürte, deshalb in der Ambulanz der Universität mit stoffwechselkranken, übergewichtigen und autoimmun Erkrankten individualmedizinisch am Lebensstil zu arbeiten. Der Erfolg hat mich überrascht und zutiefst beeindruckt. Seit dieser Zeit bilde ich mich fortlaufend in funktioneller Medizin, moderner Präventiv-, Ernährungs-, und Mikronährstoffmedizin sowie validen Naturheilverfahren weiter. Bis heute lerne ich täglich durch die Arbeit in der Praxis mit meinen Patienten und Patientinnen dazu. Die Ergänzung der klassischen Medizin durch individuelle Lebensstilmedizin ist aus meiner Sicht obligat, wenn man eine moderne Medizin leben möchte. Ich wollte außerdem nie nur „Symptome“ managen, sondern Ursachen von Beschwerden finden, systematisch behandeln und bestenfalls Krankheiten vorbeugen.


Sie setzen sich seit Jahren für eine Reform des Gesundheitswesens und für die Förderung der „sprechenden Medizin“ ein. Was überzeugt Sie bei der “sprechenden Medizin”?

„Sprechende Medizin“ ist eine Medizin, in der nicht nur Labor-, und Apparatemedizin eine relevante Rolle spielen, sondern in der die Zuwendung und Zeit des Arztes oder der Ärztin bedeutend ist. Zeit ist essentiell, auch um Ursachen für Beschwerden akribisch zu untersuchen. Dieser Aspekt der ärztlichen Heilkunst geht aktuell leider sehr verloren, vor allem in der Inneren Medizin. Ursachensuche und Zuwendung braucht gesundheitspolitisch eine Lobby. Täglich erlebe ich z.B. Menschen, die unter chronischer Erschöpfung leiden. Es wird in der Regel auf „Stress“ geschoben. Ursachen wie stille Entzündungen, autoimmune Krankheiten wie Hashimoto, Diabetes Typ 1, toxische Lasten, Schwermetallbelastungen, genetische Entgiftungsstörungen, Störfelder in der Mundhöhle, latente Infektionen wie Borreliose, EBV-Infektionen oder Mikronährstoffdefizite werden zu selten bedacht und systematisch abgeklärt. Nur wenn man eine Ursache erkennt, kann man einen Ausweg bahnen. Und den Ausweg zu erkennen, ist der erste Schritt zur Heilung.


Wenn es nach Ihnen ginge, wie sähe das Gesundheitssystem der Zukunft aus? Bisher ist unser Bisher ist unser „Gesundheitssystem“ kein echtes „Gesunderhaltungs-System“, sondern ein Symptomverwaltungssystem. Das muss sich ändern. Zeit und Zuwendung müssen als Leistungen gewürdigt werden. Außerdem sollte der Aspekt der Prävention dringend aufgewertet werden. Meine Vision: man geht zum Arzt und in eine Lebensstilberatung, um gesund zu bleiben, und nicht um Krankheitssymptome glattzubügeln. Auch muss eine tiefgreifende Reform stattfinden: es darf nicht sein, dass zu viel operiert wird. Es braucht innovative Ansätze, die Prävention fördern und Krankenhäuser für solche Arbeit belohnen. Zudem wäre es fatal, das Gesundheitssystem zu verstaatlichen. Ich habe in Italien studiert und in England im Krankenhaus gearbeitet. Dort gibt es in der medizinischen Versorgung gravierende Probleme, „untertrieben gesagt“... Es braucht innovative, moderne und kreative Lösungen. Wir stehen hier an einer Weggabelung und ich hoffe, das moderne individualmedizinische System der Zuwendung und Innovation kann sich etablieren. Das ist nicht selbstverständlich. Dafür sollten wir uns alle gemeinsam engagieren. Es ist so erfüllend, Menschen individuelle Hilfe und eine erfolgreiche Lebensstilberatung zu bieten. Allerdings sollte gerade das Wissen zur Ernährungsmedizin den modernen Kriterien standhalten. Nicht selten erlebe ich, dass Patienten und Patientinnen noch immer in Sorge sind, vor den „bösen Fetten“. Es braucht deshalb das Vermitteln der modernen Standards. Deshalb setze ich mich auch in meinen Kursen und Publikationen dafür ein, dass die moderne Ernährungslehre die Menschen erreicht und sie nicht mehr bei jeder Schlagzeile verunsichert werden. Wie empfinden Sie die Zusammenarbeit zwischen Ärzt*innen und Ernährungstherapeut*innen? Die so wichtige Zusammenarbeit muss intensiviert werden. Oft wird unterschätzt, wieviel eine individuell passende Ernährung als „Beiboot der klassischen Medizin“ und eine intensive Lebensstilberatung erreichen kann. Essen kann Vieles heilen, vorausgesetzt die Ernährungsberatung wird durch zertifizierte Ernährungsexperten und -Expertinnen nach modernen Kriterien durchgeführt. Besonders kritisch sehe ich einen aktuellen Trend: Nicht-zertifizierte Ernährungsberatungen verordnen zur Therapie des Übergewichts überteuerte Eiweißshakes, auf der Basis von Molkeprotein,- und mit Süßstoffen. Aus meiner Erfahrung bestätigt sich täglich, dass bis zu 40% Prozent der Menschen Milchproteine nicht gut vertragen. Zudem sind Süßstoffe nachweislich kritisch für die gesunde Darmflora. Hier braucht es eine Korrektur, damit die Arbeit von zertifizierten Ernährungsberatungen nicht auf das Spiel gesetzt wird.


Immer häufiger wird auf den Darm in Zusammenhang mit der Ernährung und dem Wohlbefinden geachtet. Welche Beobachtungen machen Sie bei Ihren Patient*innen in Bezug auf Darmgesundheit und Wohlbefinden?

Eine dramatisch Positive. Der Darm ist der Schlüssel zur Gesundheit. Er entscheidet immens viel. Fast jeder Mensch, den ich in der Praxis sehe hat eine mehr oder weniger gestörte Verdauung. Hier gilt es dringend anzupacken, denn nach neustem Stand der Forschung ist endlich auch in validen Studien belegt, was ich schon vor vielen Jahren empirisch bestätigen konnte: nicht nur entzündlich-autoimmune Leiden, auch Fettleber, Diabetes und Demenz, Angststörungen, Depressionen - all diese Krankheiten entwickeln potenziell aus einer gestörten Verdauung. Deswegen gehört der Darm „immer ins Boot“. Dabei nehme ich in meiner Methode allerdings nicht nur den Darm und die Integrität der Darmschleimhautbarriere unter die Lupe, sondern kümmere mich in Diagnostik und in der Therapiestrategie ausdrücklich auch um die Leber, „la grande Dame“ der Verdauung.


Letztes Jahr haben Sie das Buch ENERGY geschrieben, das Wissen vermittelt, wie man im Alter gesund, vital und energiegeladen bleibt. Wissen alleine heißt ja nicht handeln, genau darum geht es in unserem Deep-Dive und auch in Ihrem neuen Buch ENERGY IN 5 MINUTEN: Wie bringen Sie durch dieses Buch die Menschen ins Handeln?

Die Idee entstand spontan, nachdem mir viele Leser und Leserinnen geschrieben haben, und auch Patienten in der Praxis berichteten, dass das „dicke“ Buch ENERGY! enorm tiefgreifend Wissen vermittelt, nicht nur zum Thema Ernährung, sondern auch zum Verständnis des Körpers und seiner wundersamen Arbeit, die er täglich leistet. Es wurde aber dabei der Ruf nach einem Praxisbuch laut. So habe ich in wenigen, intensiven Monaten neben der Praxisarbeit dieses Mitmachbuch geschrieben. Es bündelt in einfacher, kompakter Form alle besten Tipps zum Thema: Ernährung, Verdauung, Schlaf, Stressreduktion, Gewohnheiten ändern, Mikronährstofftherapie etc. Und Ausreden à la „ich-habe-keine-Zeit“ sind dann hoffentlich passé. Entscheidend ist nämlich nicht nur etwas zu lesen. Wissen ist gut, aber angewandtes Wissen ist der Schlüssel zur Gewohnheitsveränderung und Gesundheit. Dieses Buch hilft, Menschen endlich ins Handeln zu kommen auf eine spielerische, liebevolle Art und ich hoffe sehr, dass es viele Menschen erreicht und auch durch die Empfehlung anderer Therapeuten und Therapeutinnen Einzug in die tägliche Beratungspraxis bekommt.


Sie sind Autorin von über 10 Büchern zum Thema Gesundheit und Ernährung. Was treibt Sie an, Bücher zu schreiben?

Ich liebe es, zu schreiben. Ohne die Liebe zum Schreiben wäre so etwas nicht möglich. Denn: ein Buch schreiben und zu recherchieren ist brutale und harte Arbeit. Man investiert viel Lebenszeit, Energie, „textet“ Wochenenden und Nächte durch. Aber durch die intensiven Recherchen und die tägliche Arbeit in der Praxis habe ich über die letzten Jahrzehnte viel gelernt. Auch ist mir ein Herzensanliegen: ich kann die vielen Menschen, die zu mir in die Praxis kommen, nicht alle behandeln. Mitunter gab es einen Patientenfall, der über 6 Jahre (!) auf einen Termin warten musste. Deshalb ist es mir ein Herzensanliegen, meine Erfahrungen, mein Wissen zur modernen Präventiv-, und Ernährungsmedizin nicht nur in Praxisterminen und Kursen oder meinem Podcast zu vermitteln, sondern auch in meinen Büchern, Menschen den Zugang zu ebnen.


In Ihrem letzten Buch ENERGY haben Sie die Bilder im Buch selbst gemalt. Im Buch ENERGY IN 5 MINUTEN hat Ihre Schwester die Zeichnungen gemacht. Ist Malen und Zeichnen gesund?

Absolut! Meine kleine Schwester Katharina ist meine Geheimwaffe. Sie hat mich in diesem neuen Buch gerettet und über 700 Illustrationen (!) in einer wahnsinnig kurzen Zeit gemalt. Zeitlich hätte ich das nicht geschafft. Sie ist ein kreatives Multitalent, wir beide lieben das Malen. Es ist mein liebstes Hobby. Beim Malen bin ich ganz bei mir. Jeder Mensch sollte irgendetwas haben, finden, was ihn entspannt, entschleunigt, beseelt. Wer weiß, vielleicht mache ich es irgendwann wie Udo Lindenberg oder Armin Müller-Stahl, male viel und mache Ausstellungen so wie früher… es bleibt spannend!

 

Dr. Anne Fleck lebt und arbeitet in Hamburg, liebt die Natur und malt leidenschaftlich gern. Mehr über ihre Arbeit findet ihr auf ihren Websiten www.dr-anne-fleck.com und www.docfleck.com. Das Interview wurde schriftlich geführt durch Bastienne Neumann. Bastienne kuratiert unser Fokusthemas "Ernährung, Psyche und Wohlbefinden", mit dem wir uns bei NUTRITION HUB von Nov. 2021 bis Februar 2022 befassen.


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