Im Juli dieses Jahres hat der Wissenschaftsrat den Agrar-, Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften in der Publikation Perspektiven der Agrar-, Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften eine bedeutende Rolle in der Transformation des Ernährungssektors zugeschrieben. Das freut uns sehr, denn genauso sehen wir das auch. Nutrition Hub ist entstanden, um die Menschen in diesen Wissenschaften zusammenzubringen und ihr Wissen zugänglich zu machen. An unserem Expert Summit 2024 im September haben wir um ein Meinungsbild zu den Herausforderungen unserer Branche unter den Teilnehmenden gebeten. Ernährungsexpert:innen aus dem öffentlichen Sektor, aus gemeinnützigen Organisationen, der Ernährungswirtschaft, aus Agenturen, der Ernährungsberatung und der Wissenschaft haben dabei ihre Sorgen, Gedanken und Ideen über Online-Tools geteilt. Die fünf meistgenannten Herausforderungen stellen wir hier mit den genannten Lösungen vor.
1. Mehr finanzielle Mittel für Ernährungsexpert:innen in den sozialen Medien
Das Problem: Die Expert:innen zeigen sich besorgt über die wachsende Verbreitung von Fehlinformationen im Bereich Ernährung – besonders in den sozialen Medien. Dort werden durch „selbsternannte Expert:innen”, also Personen ohne Ausbildung im Bereich Ernährung, Informationen in vielen Beiträgen nicht korrekt dargestellt. Forschende aus Australien haben dies in einer Studie untersucht. Dabei wurde die Qualität und Genauigkeit ernährungsbezogener Inhalte auf beliebten australischen Instagram-Accounts untersucht. Nur 6 Prozent erreichten ein gutes Niveau, kein Beitrag wurde als „exzellent" bewertet, fast 45 Prozent der Beiträge enthielten Ungenauigkeiten und Beiträge von Ernährungsberater:innen und Diätassistent:innen waren qualitativ hochwertiger und genauer als Beiträge von Marken oder anderen Accounts.
Eine solche Studie liegt für Deutschland nicht vor, doch die Situation scheint ähnlich zu sein. Diese Situation führt zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit bei den Verbraucher:innen. Viele fragen sich, was sie noch essen „dürfen" und was tatsächlich „gesund” ist. Die Expert:innen äußern ebenso ihre Frustration darüber, Fehlinformationen häufig zu korrigieren und grundlegende Aufklärungsarbeit zu leisten.
Die Lösung: Eine stärkere Präsenz von Ernährungsexpert:innen, Fachverbänden und öffentlichen Institutionen in den sozialen Medien ist essentiell, um proaktiv Ernährungsthemen zu besetzen. Dafür braucht es gezielte Investitionen, um diese Art von Kommunikation zu ermöglichen. Denkbar wäre eine unabhängige Organisation, in die Behörden und Ernährungswirtschaft einzahlen und die wiederum Aufträge zur Wissenschaftskommunikation in den sozialen Medien vergibt. Denn während „selbsternannte Expert:innen” häufig Inhalte erstellen, um Produkte zu vermarkten, müssen Fachleute mit produktneutraler Kommunikation dagegenhalten. Um mit ihnen konkurrieren zu können, benötigen Ernährungsexpert:innen, Fachverbände und öffentliche Institutionen entsprechende finanzielle Mittel, um Wissenschaftskommunikation betreiben zu können. Solche finanziellen Mittel könnten in Projekte fließen, bei denen Fachleute mit Content Creator kooperieren, um faktenbasiertes Ernährungswissen zu vermitteln. Ebenso denkbar sind Projekte, bei denen Fehlinformationen aktiv durch Ernährungsexpert:innen, Fachverbände und öffentliche Institutionen kommentiert und richtiggestellt werden. Wichtig: Expert:innenwissen muss klar im Sinne eines Qualitätsmerkmals gekennzeichnet sein.
2. Bundesweite Ernährungsbildung als eigenständige Kompetenz in KITAs und Schulen
Das Problem: Kinder und Jugendliche erfahren kaum ausreichende Ernährungsbildung, obwohl diese als Schlüsselkomponente für individuelle Gesundheit und gesellschaftliches Wohlbefinden gilt. Essgewohnheiten werden vor allem zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr geprägt – dabei spielen Vorbilder wie Eltern und pädagogische Fachkräfte eine entscheidende Rolle. Fehlen positive Vorbilder für ein gesundes Verhalten, kann dies langfristige und negative Auswirkungen haben.
Kitas und Schulen spielen eine zunehmend wichtige Rolle in der Ernährungserziehung. Laut der DGE-Fachgruppe Ernährungsbildung werden in Deutschland etwa 3 Millionen Kinder in rund 50.000 Kitas betreut, was 90 Prozent aller Kinder dieser Altersgruppe entspricht. Mit dem Ausbau des schulischen Ganztagsangebots steigt auch die Zahl der Kinder, die in Bildungseinrichtungen ihr Mittagessen einnehmen. Damit wächst die Verantwortung dieser Institutionen für Ernährungsbildung.
Die Lösung liegt in der bundesweiten, verpflichtenden Einführung von Ernährungsbildung in der Kita bis zur weiterführenden Schule. Ein eigenständiges Schulfach "Ernährung und Gesundheit" sollte theoretische und praktische Aspekte vermitteln, während ergänzend Ernährungsthemen in Fächer wie Geographie oder Biologie integriert werden. Externe Ernährungsfachkräfte müssen dabei als Lehrkräfte einbezogen werden, da die bisherige Ausbildung der Pädagog:innen in diesem Bereich oft nicht ausreicht. Ebenso wichtig ist die Aufklärung und Einbindung der Eltern. Die Finanzierung dieser Maßnahmen könnte durch Steuern auf ungesunde Lebensmittel erfolgen. Das Gute an einer bundesweiten Regelung? Besonders Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Haushalten würden von dem Angebot zur Ernährungsbildung profitieren.
3. Fairer Wettbewerb durch verpflichtende Standards für alle Hersteller
Das Problem: Laut Lebensmittelverband produzieren in Deutschland über 600.000 überwiegend mittelständische Betriebe der Lebensmittelwirtschaft um die 170.000 Produkte. In den letzten Jahren haben zahlreiche Unternehmen Initiativen gestartet, um die Lebensmittelproduktion nachhaltiger zu gestalten – mit Schwerpunkten auf Tierwohl, Umweltschutz und „Fair-Trade”. Die Umsetzung einer „Nachhaltigeren Ernährung” in den Bereichen Tierwohl, Gesundheit, Umwelt und Soziales, wie sie der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim BMEL definiert, ist komplex und kostenintensiv für die Hersteller. Aus unserem Meinungsbild kristallisieren sich vor allem in zwei Bereichen Handlungsbedarf: Zum einen sind für viele Expert:innen die Nachhaltigkeitsbemühungen der Unternehmen undurchsichtig. Zum anderen sehen sie vor allem Handlungsbedarf in Bezug auf gesundheitliche Aspekte der angebotenen Lebensmittel.
Die Lösung: Erstens politische Regulierung: Verpflichtende Standards oder Steuern würden einen faireren Wettbewerb schaffen. Eine reduzierte Mehrwertsteuer für nachhaltiger produzierte Produkte könnte die Nachfrage erhöhen. Denn für Unternehmen, die sich in Eigeninitiative für artgerechte Tierhaltung oder gesundheitliche Aspekte einsetzen, entsteht oft ein Wettbewerbsnachteil. Ein Beispiel für eine nicht verpflichtende, politische Maßnahme, die sich auf gesundheitliche Aspekte von Fertigprodukten fokussiert, ist die „Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten”.
Kommunikation und Wissensvermittlung: Unternehmen sollten verstärkt Ernährungsexpert:innen in ihre Prozesse einbinden, beispielsweise im Rahmen von externen Beiräten. Diese können Rückmeldung zu Unternehmensstrategien, Produktrezepturen oder Vermarktungsstrategien geben.
Zusammenarbeit und Diskurse: Branchenübergreifende Kooperation und Diskussionsrunden zwischen Erzeugern und Lieferanten, Handel, Verbraucher:innen, gesellschaftlichen Institutionen, Politik, Wissenschaft und Unternehmen sind aus Sicht der Expert:innen essentiell. Nur so lassen sich schneller gute Lösungen entwickeln und umsetzen. Das Ziel:Wirtschaft, Politik und Verbraucher:innen stärker zusammenzubringen, um Nachhaltigkeit und Gesundheit in der Lebensmittelproduktion zu fördern.
4. Bessere Kennzeichnung für hochverarbeitete Lebensmittel
Das Problem: Die Expert:innen zeigen sich besorgt über die schnelle Zunahme des Konsums hochverarbeiteter Lebensmittel (UPF, „ultra-processed food”). Viele dieser Produkte enthalten versteckten Zucker und Zusatzstoffe und tragen zur Entstehung von Krankheiten wie Adipositas und Typ-2-Diabetes bei. Sie kritisieren dabei auch irreführende Verpackungen, die die Produkte gesünder erscheinen lassen, als sie tatsächlich sind. Um Lebensmittel nach Verarbeitungsgrad zu kategorisieren, werden verschiedene Klassifizierungssysteme verwendet. Das derzeit am häufigsten verwendete System ist NOVA. Bei dieser Klassifikation werden Lebensmittel entsprechend des Verarbeitungsgrads in vier Gruppen eingeteilt. Unser Meinungsbild zeigt, dass die NOVA-Definition für hochverarbeitete Lebensmittel zu wenig in Fachkreisen diskutiert wurde sowie Forschungsbedarf besteht.
Die Lösung: Viele Stimmen fordern auch hier eine Zuckersteuer oder höhere Besteuerung solcher Produkte, um die Hersteller zur Entwicklung gesünderer Alternativen zu motivieren. Ebenso wird eine klare und ehrliche Kennzeichnung gefordert, die den tatsächlichen Nährwert und die Inhaltsstoffe transparent darstellt. Die „Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten” wird als wichtiger Ansatz gesehen, um unerwünschte Zutaten in den Produkten zu reduzieren. Fördermaßnahmen wie Steuersenkungen auf nährstoffreiche, unverarbeitete Produkte könnten gesündere Alternativen attraktiver machen. Ein Werbeverbot für zuckerreiche Produkte, insbesondere für Kinder und Jugendliche, wird ebenfalls als Lösung genannt.
Aufklärung und Bildung werden als zentrale Elemente gesehen, um Verbraucher:innen über die gesundheitlichen Auswirkungen hochverarbeiteter Lebensmittel zu informieren und die Ernährungskompetenz zu stärken. Maßnahmen reichen von der Integration von Ernährungsbildung in Schulen bis hin zur Förderung des Kochens. Viele Expert:innen betonen die Notwendigkeit einer klaren Definition von UPFs und fordern mehr Forschung zu deren gesundheitlichen Folgen. Dabei ist eine differenzierte Betrachtung unerlässlich, da nicht alle UPFs zwangsläufig ungesund sind. Eine fundierte, wissenschaftliche Auseinandersetzung unter Expert:innen ist notwendig.
5. Mehr Geld in die Gemeinschaftsverpflegung
Das Problem: Die Qualität der Gemeinschaftsverpflegung in Schulen, Kitas, Krankenhäusern und Betrieben beschreiben die Expert:innen als unzureichend. Fast Food und ungesunde Snacks sind im Vergleich zu gesunden, regional und nachhaltig produzierten Lebensmitteln oft zu günstig. Sie betonen, dass Ernährungsumgebungen, die eine pflanzenreiche und nachhaltige Ernährung erleichtern, nicht gefördert würden. Mit Ernährungsumgebung sind alle Faktoren in unserer Umgebung und Umwelt gemeint, die unser Ernährungsverhalten beeinflussen. So versteht man laut DGE unter einer „fairen Ernährungsumgebung für Kinder beispielsweise eine Umgebung, die auf die Bedürfnisse von Kindern abgestimmt ist, eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Auswahl ermöglicht und leicht für Kinder erreich- und verfügbar ist”.
Aus unserem Meinungsbild geht hervor, dass die Krankenhausverpflegung ebenso dringlich verbessert werden muss. Laut DGE sind in deutschen Kliniken bis zu 30 Prozent der Patient:innen mangelernährt. Gerade bei der Genesung spielt die Ernährung eine entscheidende Rolle. Doch der begrenzte Kostenrahmen, der niedrige Nährstoffgehalt der Mahlzeiten, die zu geringe Ernährungskompetenz im Gesundheitswesen verhindern eine standardmäßige Umsetzung. Die Effort-Studie aus 2019 zeigt, dass viele Erkrankungen bis hin zu Todesfällen durch Mangelernährung durch eine bessere Integration von Ernährung im Krankenhausalltag verhindert werden könnten.
Die Lösung ist eine deutliche Erhöhung des Verpflegungsbudgets für die Gemeinschaftsverpflegung. Damit wird eine qualitativ hochwertige und kostenfreie oder -günstige Verpflegung in KITA, Schule und Krankenhäusern möglich. Außerdem betonen die Expert:innen die Notwendigkeit der Einführung verpflichtender Qualitätsstandards, wie die der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für die Gemeinschaftsverpflegung.
Unser Meinungsbild zeigt, dass beim Thema „Ernährung und Gesundheit" stärker ressortübergreifend zusammen gearbeitet werden muss. Das Bundesgesundheitsministerium muss das Thema Ernährung stärker mitdenken und entsprechende Mittel einplanen. Die Expert:innen unterstreichen, dass gesunde Ernährung als erste Behandlungsstufe von Krankheiten verstanden werden muss. Ernährungstherapie und -beratung sollten fest im Gesundheitssystem verankert sein. Und die Investitionen in die KITA- und Schulverpflegung zahlen sich in gesünderen Kindern aus.
Dieser Artikel ist entstanden aus den Ergebnissen von Online-Befragungen vor, während und nach dem Expert Summit am 12.09.24. Die Teilnehmer:innen des Summits konnten Herausforderungen und Lösungsideen für die Ernährungsbranche nennen, die aus ihrer Sicht in den nächsten zwei Jahren besonders relevant sind.