Wer sich für die Themen Proteine und Lebensmittelerzeugung interessiert, kommt derzeit um ein Thema kaum herum: Milchprodukte aus Präzisionsfermentation. Die EU hat im Rahmen des Arbeitsprogramms 2024 des Europäischen Innovationsrats (EIC) 50 Millionen Euro bereitgestellt, um Startups und kleine Unternehmen dabei zu unterstützen, die Skalierung alternativer Proteinprodukte zu unterstützen. Der US-amerikanische Think-Tank RethinkX sieht in der Präzisionsfermentation das größte Potenzial für die Herstellung neuer Lebensmittel. Doch wie lassen sich diese Produkte in den europäischen Rechtsrahmen einordnen und wie sollten sie benannt werden? Wir haben mit der Ernährungswissenschaftlerin Federica Ronchetti und Juristin Laura Springer über ihre kürzlich mit der Adalbert-Raps-Stiftung veröffentlichte Studie dazu gesprochen.
Zuerst einmal: Warum ist Präzisionsfermentation so ein "hot topic"?
Federica & Laura: Präzisionsfermentation ist eine Technologie, die in der Lebensmittel- und Arzneimittelherstellung zum Einsatz kommt. Dabei werden bestimmte Mikroorganismen unter kontrollierten Bedingungen eingesetzt, um gezielt gewisse Stoffe zu erzeugen. Im Grunde werden Mikroorganismen dabei als „lebende Fabriken“ genutzt, welche Zielverbindungen in großen Mengen produzieren. Dabei können abhängig vom Target auch genveränderte Mikroorganismen eine Rolle spielen. In der Lebensmittelbranche ist diese Technologie als besonders spannend angesehen, weil sie es ermöglicht, typisch tierische Komponenten (wie eben Casein, Eiproteine, Molkenproteine, usw.) tierfrei zu produzieren.
Federica: Es gibt mehrere Erhebungen über den weltweiten Markt für Präzisionsfermentation. Im Jahr 2021 wurde dieser auf circa 1,3 Mrd. USD geschätzt und laut den Reports wird dieser bis 2031 voraussichtlich um die 35 Mrd. USD erreichen, mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von über 40 Prozent von 2022 bis 2031. Wir reden also von einem Markt mit enormen Potential, von dem wir große Entwicklungen erwarten können.
Laura: Gerade im europäischen Markt ist es aber auch wichtig, bei Konsument:innen für die Akzeptanz alternativer Produktionsprozesse zu werben. Viele Verbraucher:innen scheuen den Kauf solcher Produkte, weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Einige befürchten gar Gesundheitsrisiken. Daher ist es wichtig, auch für Aufklärung und Wissensvermittlung bezüglich dieser innovativen Herstellungsarten zu sorgen.
Was bedeutet die Erzeugung von Produkten aus Präzisionsfermentation für die Ernährungsindustrie?
Federica & Laura: Präzisionsfermentation birgt für die Lebensmittelindustrie großes Potential. Sie ermöglicht die Herstellung von typisch tierischen Komponenten ohne den tatsächlichen Einsatz von Tieren. Somit können mehr vegane Alternativprodukte auf den Markt gebracht werden, welche dem „Original“ sowohl in der Textur und dem Geschmack, aber auch in dem Nährstoffgehalt mehr ähneln. Zudem soll diese Technologie mehreren Studien zufolge die Proteinproduktion innerhalb der nächsten zehn Jahre ökologisch und auch finanziell nachhaltiger machen. Dadurch sollen beispielsweise die Kosten der Proteinproduktion im Vergleich zur klassischen Gewinnung durch Tiernutzung stark reduzieret werden. Der Einsatz von Präzisionsfermentation soll auch beim Erreichen der Klimaziele beitragen, da er zum Wegfall eines großen Teils der Emissionen aus der Lebensmittelindustrie führen soll.
Worum geht es denn genau in der Studie, die ihr zusammen mit der Adalbert-Raps-Stiftung veröffentlicht habt?
Federica & Laura: In der Studie haben wir die relevantesten Aspekte des EU-Regelwerks für das Inverkehrbringen von präzisionsfermentierten Lebensmitteln erforscht und zusammengefasst. Es geht also sowohl um Aspekte der Zulassung (z.B. den rechtlichen Rahmen für die Verwendung von Mikroorganismen und GVOs in der Lebensmittelproduktion, den Rechtsrahmen für neuartige Lebensmittel und den für genetisch modifizierte Lebensmittel) als auch um die Kennzeichnung der Produkte.
Wichtig ist zum Beispiel, dass für Milchersatzprodukte sehr strenge Regeln zur Benennung der Erzeugnisse für deren Vermarktung bestehen. Um das Thema rundum zu behandeln, haben wir im letzten Kapitel eine kleine vergleichende Analyse durchgeführt und die obengenannten Aspekte kurz in Bezug auf andere Erzeugnisse der Präzisionsfermentation dargestellt. Um einen Überblick über die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen der Lebensmittelinnovationen außerhalb von der EU zu schaffen, haben wir im Anschluss die Zulassungsverfahren in Singapur und in den USA geschildert.
Warum wurde Käse als Fallbeispiel für Präzisionsfermentation gewählt?
Federica & Laura: Wir haben im Rahmen unserer Studie den Fokus auf Käse-Ersatzprodukte gelegt, weil es sich dabei um ein Produkt handelt, an dem konkret und aktuell von Startups geforscht und gearbeitet wird, bzw. bei dem die Produktentwicklung grundsätzlich schon abgeschlossen ist. Es handelt sich also nicht nur um eine Idee, sondern um etwas greifbares. Zudem ist Käse ein zusammengesetztes, vollständiges Lebensmittel, das in Europa in großen Mengen verzehrt wird. Wir reden dabei nicht über Proteinisolate oder Einzelkomponenten, sondern um etwas, was im Alltag der meisten Verbraucher:innen eine große Rolle spielt.
Bei der Inverkehrbringung von Lebensmitteln gibt es viele Vorschriften. Was gilt es bzgl. der Zulassung von Milchprodukten aus Präzisionsfermentation zu beachten?
Federica & Laura: In der EU spielt Lebensmittelsicherheit eine zentrale Rolle und es gelten sehr strenge Voraussetzungen für das Inverkehrbringen von Lebensmitteln. Gewisse Lebensmittelkategorien bedürfen einer Zulassung, bevor sie auf den Markt kommen können. Dies ist der Fall für, unter anderem, neuartige Lebensmittel und genetisch modifizierte Lebensmittel, welche eigene Zulassungsvorlagen erfüllen müssen. Dass, präzisionsfermentierte Produkte einer solchen Zulassung bedürfen steht fest, die rechtliche Zuordnung dieser Erzeugnisse in der entsprechenden Kategorie ist jedoch leider nicht eindeutig. Das führt zu Unsicherheiten vonseiten der Lebensmittelinnovator:innen und erschwert es, die passende Dokumentation für die Zulassung bereitzustellen. Somit werden bereits langwierige Zulassungsprozesse noch mehr in die Länge gezogen, was zum einen finanzielle Folgen hat und zum anderen die Innovation hindert.
Wie müssen Milchprodukten aus Präzisionsfermentation nach aktuellen Vorgaben gekennzeichnet werden?
Federica & Laura: Die Kennzeichnung stellt Produzent:innen vor große Herausforderungen. Das fängt schon beim Namen des Produkts an. Es gibt gerade für Milchprodukte bestimmte Listen mit Namensbezeichnungen. Darin steht z.B., dass Milch ein durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnenes Erzeugnis der normalen Eutersekretion ist, d.h. Milch ist immer tierischen Ursprungs und Milchprodukte sind immer aus Milch hergestellt. Es gibt zwar auch Ausnahmelisten (Kokosmilch und Erdnussbutter sind zugelassene Namen), solange diese Listen aber nicht aktualisiert werden und Produkte aus Präzisionsfermentation aufnehmen, müssen diese eine andere Bezeichnung tragen. Das Problem kennen wir bei pflanzlichen Ersatzprodukten: So kann man auch nur „Soja-Drink“ und keine Sojamilch kaufen. Viele Hersteller machen sich im Rahmen der Entwicklung noch keine Gedanken über die rechtliche Bezeichnung, dabei ist diese auch aus Marketing-Gesichtspunkten nicht zu vernachlässigen.
Wie könnte eurer Meinung nach eine transparente und konsumentenfreundliche Kennzeichnung für Produkte aus Präzisionsfermentation aussehen um Vertrauen aufzubauen?
Federica & Laura: Der Spagat zwischen umfassender Information für Verbraucher:innen und Marketing ist gerade vor dem Hintergrund schwer, dass es keine namensrechtlichen Regelungen für Präzisionsfermentationsprodukte und andere Produkte aus innovativen Herstellungsverfahren gibt. Denn auch das Marketing dieser Produkte ist wichtig, um beim Verbraucher:innen für die Akzeptanz dieser Produkte zu sorgen. Einschlägige Markennamen sind daher ein Muss, aber es darf nicht verschleiert werden, dass die Produkte gerade nicht wie herkömmlicher Käse aus Milch hergestellt werden.
Jetzt noch ein kleiner Ausflug in die Start-up Welt. Welche wirtschaftlichen Folgen hat die Auslagerung europäischer Startups in Länder mit einfacheren Marktzugangsvoraussetzungen derzeit und zukünftig?
Federica & Laura: Startups haben es in Ländern wie Singapur aus mehreren Gründen leichter Fuß zu fassen als in Europa. Zum einen können sie ihre Produkte dort bereits vermarkten und weiter verbessern, denn Präzisionsfermentationsprodukte sind von den lokalen Lebensmittelsicherheitsbehörden bereits freigegeben. In Europa können diese Zulassungsverfahren sehr lange dauern und teuer sein. Zum anderen ist die Akzeptanz solcher Produkte bei Verbraucher:innen vorhanden, das heißt es besteht auch ein Markt für diese Produkte. In Europa sind die Essgewohnheiten der Verbraucher:innen anders geprägt. Ohne entsprechende Aufklärung und weitere Informationen über den Produktionsprozess denke ich, dass es die Startups in Europa schwer haben werden ihre Produkte zu vermarkten, selbst wenn sie die Zulassung erhalten. Dadurch ergibt sich für Europa das Problem, dass sie bei der Entwicklung solcher Produkte „hinterherhinken“.
Letztlich wird die Akzeptanz der Verbraucher:innen entscheiden, inwiefern Lebensmittelerzeugnisse aus Präzisionsfermentation ein Standbein in der Ernährungsindustrie werden. Welche Rolle können hier Ernährungsexpert:innen einnehmen?
Federica: Ernährungsexpert:innen stellen in diesem Kontext Schlüsselpersonen dar. Sie haben in meinen Augen vor allem eine Aufklärungsfunktion: als Naturwissenschaftler:innen können sie stets einen objektiven Blick über das Thema der Lebensmittelinnovationen bewahren, und als Professionisten und Vertrauenspersonen sind sie in der Lage, ihren Patientinnen gewisse Ängste zu nehmen und den weg nicht nur zu einer gesunderen aber auch zu einer nachhaltigeren Ernährung aufzuzeigen.
Laura: Da kann ich nur zustimmen. Das Wichtigste ist, dass wir alle auch die Sorgen der Verbraucher:innen ernst nehmen. Immer, wenn es um neuartige Herstellungsprozesse und Produktalternativen geht, sind die Durchschnittsverbraucher:innen erstmal vorsichtig, manchmal sogar grundlos ablehnend dem neuen Lebensmittel gegenüber. Auch das ist in Ordnung und sollte respektiert werden. Verbraucher:innen dürfen nicht das Gefühl bekommen, dass ihnen eine bestimmte Ernährungsform aufgedrängt wird, die er gut finden muss. Es ist daher wichtig, dass sich Ernährungsexpert:innen auch mit der rechtlichen Seite der Zulassung neuartiger Lebensmittel und genetisch veränderter Lebensmittel befassen, um den Verbraucher:innen einerseits aufzeigen zu können, dass diese Produkte vielfach getestet und sicher sind, und andererseits deutlich machen, dass die neuartigen Produkte nicht die herkömmlichen Lebensmittel verdrängen sollen, sondern eine Alternative bzw. Ergänzung darstellen.
Wie seid ihr denn überhaupt mit dem Thema der Präzisionsfermentation in Kontakt gekommen?
Federica: Wir haben beide am Lehrstuhl für Lebensmittelrecht am Campus Kulmbach der Universität Bayreuth gearbeitet, wo die Regulierung von Lebensmittelinnovationen das Hauptthema darstellt. Ich habe nach einem Bachelor in Ernährungswissenschaften an der Uni Wien einen Dipl.-Ing. Studiengang im Bereich Lebensmitteltechnologie an der Boku Wien absolviert. Im Rahmen des Masterkurses habe ich den Bereich Lebensmittelrecht kennengelernt und es hat mich so sehr fasziniert, dass ich beschlossen habe, mich in diese Richtung weiterzubilden. Deshalb habe ich oben drauf einen Postgraduate Master in Lebensmittelrecht an der Universität Guido Carli in Rom absolviert. Präzisionsfermentation ist in den letzten Jahren so prominent geworden und wir haben uns gefragt, was dies aus rechtlicher Sicht für Praxisauswirkungen haben kann und gleichzeitig, was dessen Regulierung für die Start-ups bedeutet, die damit arbeiten.
Laura: Ich fand unglaublich spannend, mit Federica als Naturwissenschaftlerin zusammenzuarbeiten. Ich selbst habe einen reinen juristischen Hintergrund. Schon während meines Studium an der Universität in Bayreuth habe ich den Schwerpunkt Lebensmittelrecht für mich entdeckt und bin nach meinem ersten Staatsexamen zum Promovieren an den Lehrstuhl für Lebensmittelrecht nach Kulmbach gekommen. Seit April 2024 bin ich im Referendariat in Bayreuth, welches ich im nächsten Jahr mit dem Zweiten Staatsexamen abschließen werde. Gerade für Themen im Bereich Lebensmittel und Regulierung ist ein Praxisbezug besonders wichtig. Das Thema Präzisionsfermentation ist ohne naturwissenschaftlichen Hintergrund nicht greifbar, allerdings kann man die aktuellen regulatorischen Hürden nur verstehen, wenn man sich auch mit der lebensmittelrechtlichen Seite der Thematik befasst. Diese Symbiose zwischen Recht und Naturwissenschaft haben wir in unserem Projekt mit der Adalbert-Raps Stiftung gut aufzeigen können.
Und zum Abschluss: Auf welche Produkte aus Präzisionsfermentation freut ihr euch besonders?
Federica: Ich persönlich freue mich am meisten auf Milchproduktersatz, vor allem tatsächlich auf „Käse“. Käse ist ja sehr vielseitig und auch vielseitig einsetzbar, und Präzisionsfermentation hat das Potential, sehr viele Sorten tierfrei nachzumachen. Mehrer Start-ups widmen sich dem Thema, wie: Formo, Those Vegan Cowboys und einige Teilnehmer:innen der Precision Fermentation Alliance.
Laura: Auf Käse freue ich mich auch besonders, gerade weil es so viele verschiedene Käsesorten gibt. Hier finde ich vor allem Camembert spannend. Zudem gibt es auch Startups, wie Every, die Präzisionsfermentation nutzen, um vegane Ei-Alternativen herzustellen. Da bin ich besonders gespannt.
Dieses Interview wurde geführt von Roxanna Rokosa, NUTRITION HUB.
Federica Ronchetti und Laura Springer wurden von NUTRITION HUB zum Expert Circle Get-together am 28. Mai 2024 eingeladen, um mit Expert:innen über das Thema Präzisionsfermentation zu diskutieren. Im Nachgang dieser Veranstaltung ist das Interview entstanden.
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