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Gesundheit geht anders - Interview mit dem Ernährungspsychologen Frédéric Letzner

„Zu blöd zum Leben – Gesundheit geht anders“ - das ist der Titel des Buches von Frédéric Letzner, Ernährungswissenschaftler, ehemaliger Ernährungstherapeut und Personal Trainer. Seit über 15 Jahren widmet er sich der Psychologie des menschlichen Ernährungs- und Gesundheitsverhaltens. Unsere Deep-Dive-Kuratorin Bastienne hat mit ihm über bewusstes Essen, Selbstoptimierung und Genuss gesprochen. All die Themen, die in unserem Trendreport Ernährung 2022 zu den zehn wichtigsten Trends gehören. Das Interview ist Teil unseres Fokusthemas "Ernährung, Psyche und Wohlbefinden", mit dem wir uns bei NUTRITION HUB noch bis Ende Februar 2022 befassen werden.

Du stehst mit der Thematik Ernährungspsychologie regelmäßig auf der Bühne. Wie kam es dazu, dass du dich ausgerechnet für solch ein nischiges Thema entschieden hast?

Nun ja, ich würde behaupten, „Ich habe es mir nicht ausgesucht“. Ich empfinde die Ernährungspsychologie, nach all dem, was ich über Ernährung in meinem Studium lernen durfte, letzt endlich als „logische Konsequenz“. Schließlich wissen die meisten Menschen schon, was sie theoretisch essen sollten. Trotz dieses Wissens, fällt es uns jedoch schwer, uns entsprechend zu verhalten. Hier kommt die Ernährungspsychologie ins Spiel, welche für ein gesundes Essverhalten meines Erachtens sinnvollere Lösungsansätze bietet, als die klassische, aufklärende Ernährungsinformation.


Provokation ist ein gern genutztes Element in deiner Arbeit. Provokation und Gesundheit - wie passt das beides zusammen?

Ich glaube zwar, dass es ungewöhnlich ist, ein so sensibles Thema wie „Gesundheit“ provokant zu präsentieren, bin jedoch davon überzeugt, dass es eine wirksame Methode ist. Denn Gesundheit wird für viele Menschen häufig erst dann relevant, wenn sie fehlt. Daher darf es manchmal auch bei einem Vortrag ein bisschen weh tun. Das berührt, emotionalisiert, irritiert und rüttelt manchmal auch ein bisschen wach. Ein so wichtiges Thema, wie Gesundheit“, emotional, unterhaltsam und ansprechend zu vermitteln ist insbesondere dann sehr wichtig, wenn wir relevante Zielgruppen erreichen wollen. Im Bereich Gesundheit spielen unsere Emotionen eine große Rolle - demnach darf es auch mal, bei der Vermittlung von Inhalten und Zusammenhängen, emotional zugehen.


Provokant geht es auch in deinem Buch “zu Blöd zum Leben” zu, das 2021 auf den Markt kam. In welchem Zusammenhang steht der Titel des Buches mit der Thematik der Ernährung.

Der Titel des Buches spiegelt eine Beobachtung wieder, die mir leider viel zu häufig in der Gesundheitsbranche begegnet. Nämlich die scheinbar weit verbreitete Überzeugung, dass man den Menschen nur noch einmal erklären müsste, was sie tun sollen. Als ob wir das nicht schon längst wüssten - als wären wir alle „zu blöd zum Leben“. Das Ziel dieses Buches ist, auf möglichst einfache und unterhaltsame Art und Weise aufzuzeigen, dass Gesundheit und Ernährung nur herzlich wenig mit „fehlendem Wissen“ zu tun hat. Es beschreibt vielmehr die Gründe, warum wir uns nicht so verhalten, wie wir es uns immer wieder vornehmen. Dieses Bewusstmachen stellt für mich die Basis für eine langfristige Verhaltensänderung dar. Denn solange wir nicht verstehen, welcher Teufel uns mal wieder Richtung Kühlschrank reitet, desto weniger hilfreich sind allgemeine Ernährungsempfehlungen.


Wie hängen Psyche und Ernährung eigentlich zusammen?

Ha Ha… Immer! Essen ist emotional. Essen ist impulsiv. Essen ist Psychologie. Unser Essverhalten wird fast immer durch unsere Vergangenheit, durch unsere Erfahrungen und durch unsere Werte beeinflusst. Dann, wenn wir über „Essverhalten“ diskutieren, dann sprechen wir in aller erster Linie über das „Verhalten“. Dies erklärt auch, warum das Erklären von ernährungswissenschaftlichen Zusammenhängen in den meisten Fällen nicht zielführend ist und der Beruf der Ernährungsfachkraft in vielen Fällen auch sehr frustrierend sein kann, wenn man die Psyche des Menschen nicht berücksichtigt.


In der Ernährungspsychologie geht es auch darum zu verstehen, weshalb man so isst, wie man isst. Was sind typische Muster die dafür sorgen, dass wir essen, selbst wenn wir körperlich gar nicht hungrig sind?

Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Vermutlich kann ich auf diese Frage auch nur einige wenige Facetten ansprechen, die den Stellenwert der Ernährungspsychologie verdeutlichen. Die Liste der Gründe und Konflikte, die uns dazu antreiben mehr zu Essen, als wir brauchen, ist unendlich lang und von Person zu Person unterschiedlich. Häufig essen wir aus Stress, Frust oder aus Langeweile. Manchmal sind es auch die Dinge die wir in der Kindheit gelernt haben, dass wir brav unseren Teller leer essen, obwohl wir schon längst satt sind - oder weil es danach als Belohnung einen Nachtisch gibt. Andere essen besonders schnell, da sie das Gefühl haben unter Zeitdruck zu stehen. Dem Nächsten fällt es vielleicht schwer „Nein“ zu sagen, wenn die Mutter den Lieblingskuchen für einen gebacken hat, oder die Freunde zum Essen einladen. Dann essen wir vielleicht mehr als geplant, da das Essen schließlich umsonst ist, man eingeladen wurde, oder nicht unhöflich sein möchte. Manchmal essen wir auch große Portionen, da es zu einem dominanten Rollenbild passt (oder wir das glauben) und wir verzichten auf bestimmte Produkte, da es unserem Wertesystem entspricht (oder wir ein Wertesystem repräsentieren wollen). Essen ist nicht selten Identität und die Entscheidungen die im Alltag an unser Essverhalten gekoppelt sind, haben sehr häufig nur wenig mit unserem Hunger- oder Sättigungsgefühl zu tun. Viele dieser Entscheidungen laufen jedoch unbewusst ab, ohne das wir uns aktiv darüber Gedanken machen müssen. Manchmal ist es jedoch sinnvoll, mal genauer darüber nachzudenken, was uns so umtreibt.


Wir leben heute in einer sehr leistungsorientierten Gesellschaft. Selbstoptimierung spielt dabei eine große Rolle und macht auch vor der Ernährung kein halt. Viele zählen Kalorien, tracken ihr Essen und werten die Zufuhr der gegessenen Makronährstoffe aus. Welche Auswirkungen hat dieses Verhalten auf die Ernährung?

Erstmal möchte ich sagen, dass es nicht falsch ist, sein Essen zu analysieren und zu bewerten. Es ist jedoch wichtig, dass wir begreifen, es dies, im Extrem, auch ein sehr ungesundes Maß annehmen kann. Wenn wir unser Essen nur noch „funktionalisieren“, kann es durchaus zwanghaft werden. Auch dann, wenn es vielleicht viel mehr um „Ästhetik“, „Perfektion“ und „Kontrolle“ geht, als um Gesundheit. Hier sind die Grenzen zu dem, was wir bei Essstörungen beobachten können, nur sehr schmal. Ein gesundes Essverhalten hat immer auch mit einem gesunden Maß zu tun, mit einem guten Körpergefühl, mit Genuss und mit Freude. Schließlich geht es bei Gesundheit um Wohlbefinden, Freiheit und Lebensqualität. Ein überhöhter Anspruch daran, alles richtig und perfekt machen zu müssen - auch beim Essen - kann dazu führen, dass die Freiheit, der Genuss und die Aufmerksamkeit auf das eigene Körpergefühl aufgegeben werden und langfristig das Wohlbefinden und die Lebensqualität darunter leidet. Im Extrem kann es sogar so weit gehen, dass Menschen Angst vor „ungesundem“ Essen haben, verunsichert darüber sind, was sie „noch essen dürfen“ und keine Freude mehr beim Essen verspüren.


Was müsste passieren, damit Essen in der breiten Masse wieder ein Genuss werden kann und zu unserem Wohlbefinden beiträgt?

Die Herausforderungen sind vielseitig. Das kategorische Einteilen von „gesunden“ und „ungesunden“ Lebensmitteln oder Ernährungsformen ist ein Grund dafür, warum es uns schwer fällt, ohne schlechtes Gewissen zu genießen. Hier gilt der alte Satz: Die Dosis macht das Gift. Demnach sollte Alles erlaubt sein und Verbote sind verboten. Die Geschwindigkeit unserer Gesellschaft ist ein weiteres Problem. Während wir glauben, immer schneller Leben zu müssen, fällt es vielen Menschen schwer, echte Pausen zu machen, langsam zu essen oder achtsam zu sein mit sich und dem eigenen Körper. Und letztendlich sprechen wir darüber, dass wir eine Haltung entwickeln dürfen, wo unsere Bedürfnisse und unsere Grenzen, berücksichtigt und gewertschätzt werden. Eine gesunde und genussvolle Ernährungsweise hat ihre Basis darin, dass ich Selbstfürsorge betreibe, auf mich selbst aufpasse, meine Bedürfnisse ernst nehme und mir selber so viel Wert bin, mir die Zeit für mich und für mein Essen zu nehmen - Genussvoll und erlebnisorientiert. Genau hierfür brauchen wir Vorbilder. Menschen die zeigen, dass ein gesundes Essverhalten nicht unbedingt das ist, was wir aktuell auf Instagram und Co. vorherrschend präsentiert bekommen.

 

Mehr über den Ernährungswissenschafler, Redner und Autor für Ernährungspsychologie Frédéric Letzner und seine Arbeit findet ihr auf seiner Website.

Das Interview wurde schriftlich geführt durch Bastienne Neumann. Bastienne kuratiert unser Fokusthemas "Ernährung, Psyche und Wohlbefinden", mit dem wir uns bei NUTRITION HUB von Nov. 2021 bis Februar 2022 befassen.



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